Meldung

EKD-Ratsvorsitzender sprach in München

Dienstag, 02. August 2016, 15:59 Uhr
Ansprache zur Trauerfeier im Münchner Dom am 31.7.16

Heinrich Bedford-Strohm·Montag, 1. August 2016

Christus spricht: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen“ (Mt 11,28-29).

Ja, mühselig und beladen sind wir. Und wir bringen heute unsere Trauer, unser Erschrecken unsere Sorge um die Zukunft vor Gott. Hier im Münchner Dom und zusammen mit allen anderen, die jetzt über das Fernsehen dabei sind, teilen wir unsere Mühsal - miteinander und mit Gott. Wir brauchen diese Gemeinschaft. Wir brauchen einander. Den Angehörigen der Toten kann niemand ihre Lieben wiedergeben. Aber wir können über alle religiösen und kulturellen Grenzen hinweg ihr Leid mittragen. Wir haben eben Worte des Gebets aus Judentum, Christentum und Islam gehört. Diese Worte haben Sprache gegeben für das Vertrauen, aus dem wir Gottsucherinnen und Gottsucher leben.

„Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. … so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen“ – für uns Christen sind diese Worte Jesu die große Hoffnung. Und diese große Hoffnung schafft uns – und vielleicht ja nicht nur uns – den Raum, um jetzt innezuhalten.

Nach dem Erschrecken der Tatnacht, dem Versuch zu verstehen, was da eigentlich passiert war, nach weiteren schlimmen Nachrichten von anderen Orten in und außerhalb Bayerns im Laufe dieser Woche und den politischen Diskussionen um die richtigen Reaktionen darauf, die nun längst entflammt sind, ist es heute Zeit, jenseits all dieser Diskussionen noch einmal innezuhalten. Denn uns alle bewegt die Frage, wie wir jetzt in die Zukunft gehen sollen, wie wir jetzt in die Zukunft gehen können.

Viele Menschen haben Sorge, manche haben Angst. Und keine noch so überzeugende Statistik über das unvergleichbar höhere Risiko, Opfer eines Autounfalls zu werden, kann die Bilder von der so plötzlich mitten in den unbefangenen Alltag einbrechenden Gewalt einfach löschen: Statistiken erreichen den Verstand. Bilder legen sich auf Herz und Seele.

In dieser Situation haben alle Verantwortung an ihrem jeweiligen Ort. Diejenigen, die politische Verantwortung tragen, müssen nach rechtsstaatlich tragfähigen Wegen suchen, um das Risiko weiterer Gewaltakte soweit wie möglich zu begrenzen. Alle, die medizinische und soziale Anzeichen für mögliche Gewalttaten erkennen können, müssen Frühwarnsysteme entwickeln, die entsprechende Planungen rechtzeitig stoppen helfen. Die Medien müssen ihre Berichterstattung reflektieren und für die Zukunft unterscheiden lernen, wo sie ihre Informationspflicht erfüllen und wo sie zu einer möglichen Hysterie beitragen, die niemandem hilft. Die Kirchen und Religionsgemeinschaften müssen sich um die Seele der Menschen, die Seele der ganzen Gesellschaft sorgen und Quellen der Zuversicht erschließen.

Es gibt vielleicht nichts, was uns in dieser Situation mehr helfen kann als neues Gottvertrauen. Das Vertrauen, dass – wie der Apostel Paulus sagt – „weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes“. Ein Vertrauen, was uns von der Lähmung in eine Freiheit führt, die am Ende das schlimme Ereignis, das uns heute zusammenführt, zum Ausgangspunkt einer neuen Kraft werden lassen kann.

Alle miteinander haben wir die Endlichkeit des Lebens vor Augen geführt bekommen. Der Tod ist auch sonst da, aber wir meiden ihn. Wir schieben ihn zur Seite, wo immer wir können. Wir ertragen ihn nur im Spielfilm am abendlichen Fernsehbildschirm. Vielleicht ertragen wir ihn auch noch, wenn wir ihn in den Nachrichten sehen und er weit weg ist. Und jetzt ist er aus dem Nichts heraus so nahe gekommen. Viele von uns hier in München konnten die Häuser nicht mehr verlassen oder hingen irgendwo in der Stadt fest. Ich höre noch immer das Knattern der Hubschrauber direkt über meinem Büro und die Polizeisirenen ringsum.

„Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ – heißt es in der Bibel. Vielleicht können diese Tage des Erschreckens über die Endlichkeit des Lebens Ausgangspunkt für eine neue Klugheit im Umgang mit unserem Leben sein. Indem wir merken, wie wenig selbstverständlich das Leben ist. Indem wir wahrnehmen, wie kostbar das Leben ist. Wie kostbar die Zeit mit unseren Lieben ist. Aus der Trauer, die wir jetzt empfinden, aus dem Erschrecken über das jähe Ende des Lebens der Menschen, die wir heute betrauern, kann etwas Neues wachsen: eine neue Achtsamkeit für die Kostbarkeit des Lebens. Ein neues Bewusstsein für das wunderbare Geschenk des Lebens.

Nehmt das mit aus diesem Gottesdienst. Denkt daran, wenn ihr nach Hause geht, wenn die Worte hier zu Ende gesprochen und die Trauermusik verklungen ist: Es ist nicht selbstverständlich, dass wir leben, dass wir unsere Lieben bei uns haben. Unsere Zeit ist endlich. Deswegen, werft sie nicht weg. Nehmt die Zeit aus Gottes Hand und nutzt sie. Lebt bewusst und: vergesst nicht, zu danken!
Viele Menschen hier in München haben gezeigt, dass wir der Gewalt nicht hilflos ausgeliefert sind. Sie haben mitten in der Angst und in dem Erschrecken über die Gewalt Zeichen der Menschlichkeit gesetzt. Wir haben in diesen schweren Tagen erlebt, wie reich unser Leben wird, wenn wir aufeinander achten und zusammen stehen. Wenn wir einander nicht Konkurrenten sind, sondern Mitmenschen. Wenn wir unsere Häuser füreinander öffnen und Gemeinschaft erfahren. Wenn wir nicht nach Hautfarbe, Nationalität oder Religion fragen, sondern nur danach, ob einer unsere Hilfe braucht. So wie die äthiopische Gemeinde, die die ganze Nacht über 60 Personen beherbergte, die sich dorthin geflüchtet hatten. Oder wie der anonym gebliebene Mann aus Tunesien. Er hat gestrandeten Menschen in der Münchner Amoknacht spontan angeboten, sie nach Hause zu fahren. Ein Ehepaar hat ihm mangels Name und Adresse über einen Leserbrief in der Zeitung gedankt. Es war von ihm mitgenommen worden, als der Unbekannte bereits seine neunte Fuhre beförderte. Das Ehepaar hat den Segen eines Menschen erfahren, der einfach nur anderen helfen wollte.
Der anonyme Helfer ist damit zusammen mit vielen anderen zum Zeugen dessen geworden, was Dietrich Bonhoeffer in schwerer Zeit im Widerstand gegen den Nationalsozialismus so formuliert hat:
„Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.“
Aus diesem Vertrauen lasst uns leben. Hass und Gewalt werden keine Macht über unsere Herzen gewinnen. Die Liebe ist stärker.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN.
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